Ausstellungen

18. November 2017

autovisions

die mobilität der zukunft

img
autovisions – die mobilität der zukunft
martin kaltwasser 
18.11.2017 – 14.01.2018
 
 

auto /griech.: selbst – Präfix

autovisions - die mobilität der zukunft zeigt Martin Kaltwassers künstlerische Auseinandersetzung mit dem Automobil als Objekt und Ausgangsmaterial für mobile Skulpturen: Fahrräder aus Autos.

Dabei zielen die gezeigten Arbeiten auf viele unterschiedliche Aspekte des Automobils, der Automobilkultur, der virulenten Mobilitätsfrage, unserer extrem komplexen Lebenswirklichkeit, den Realitäts- und den Möglichkeitssinn.

Das Automobil wurde von Peter Weibel, Leiter des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medien­technologie, im Zuge der Ausstellung „Car Culture“ 2011 sowohl in Bezug auf Marinettis futuristisches Manifest (1909) als auch das Statement Wolf Vostells („Das Auto ist die Plastik des 20. Jahrhunderts“, 1969), als DIE Skulptur des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Wenn dem so ist, so fragen die Kunstwerke danach, welche die nachfolgende skulpturale Form des 21. Jahrhunderts ist, oder rückblickend aus dem 22. Jahrhundert betrachtet, gewesen sein wird.

Kaltwassers Arbeiten buchstabieren dabei den Möglichkeitssinn: Was wird nach dem Ende des Automobilzeitalters sein? Welche – gesellschaftlichen – Formen werden wir aus dem Erbe der Automobilgesellschaft generieren?

Die skulpturalen Transformationen von Autos zu Fahrrädern, die Martin Kaltwasser im Jahr 2008 zusammen mit seiner langjährigen künstlerischen Partnerin Folke Köbberling in Graz begonnen und in Hamburg 2009, in Los Angeles 2010, in Mexico 2013 wiederholt hat, führt er nun seit 2014 als Werkzyklus weiter. Im Rahmen des internationalen Architekturworkshops „Osthang Project“ auf der Darmstädter Mathildenhöhe baute er zusammen mit Studierenden einen autovision betitelten Pavillon aus Autokarosserien, dutzenden Windschutzscheiben und Dächern von Kleintransportern und setzte somit Elemente der Autokultur als praktische Bauteile für Architektur ein.

Im Sommer 2017 transformierte Martin Kaltwasser in Marl einen Ford Fiesta Bj.1994 wiederum in zwei fahrtüchtige Fahrräder. Daraus entwickelte sich das Vorhaben, mit jeder neuen Auflage seines nun autovisions betitelten skulpturalen Werkzyklus einerseits immer bessere, technisch und optisch ausgefeilte Fahrräder aus Autos zu bauen und das Ausgangsmaterial Automobil auch zum Bau weiterer Objekte der Mobilität, der Behausung, des Urban Design und Social Design zu entwickeln. Die autovisions sind Kunst, Design, sozialer Raum, Performance, Interaktion, Intervention, Architektur und urbane Gestaltung.

Aber vor allem sind sie Kunst. Martin Kaltwasser interessiert der skulpturale Gehalt der Autos, ihr Objektcharakter als ingenieurtechnisch und ökonomisch extrem elaborierte Alltagsgegenstände, die eine Extremform menschlicher Technikgenialität mit fragwürdiger Ausrichtung darstellen, die es künstlerisch weiterzudenken und zu transformieren gilt. Autos sind emotional extrem aufgeladen. Das Auto ist zu verstehen als materielles Äquivalent unseres gegenwärtigen globalen Lebens als menschliche Wesen im Spätkapitalismus. Das System Auto ist auch Mitverursacher von weltweiten Kriegen, Umweltkatastrophen, Fluchtbewegungen, Armut, Hungersnöten, Massensterben. Trotzdem faszinieren Autos und werden quasi religiös vergöttert. Die Gier nach Autos ist Synonym für eine spätkapitalistische Gesellschaft, in der bestimmte Marken, speziell Automobilmarken, teilweise wie Religionen glorifiziert werden.

Die Herstellung der zentralen, in Marl entwickelten Arbeit autovision 2/3 fand auf dem Gelände der Beschäftigungsgesellschaft Schacht8/Werkstatt Brassert statt, in der versucht wird, Langzeitarbeitslose wieder für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Dort bestand während der Sommermonate 2017 eine improvisierte Schlosserwerkstatt, in der Martin Kaltwasser mit künstlerischen Mitteln an der Auto-Fahrrad-Transformation flexte, hämmerte, schraubte und schweißte und somit dort ganz konkret das Symbol der einen Lebensform in das Symbol einer anderen vermuteten/ersehnten Lebensform umwandelte.

Ähnlich war Martin Kaltwasser bei Cars Into Bicycles 2010 in der Mega-Autostadt Los Angeles vorgegangen, bei der er zusammen mit Folke Köbberling und Studierenden des Art Center College of Design Pasadena einen Saab 500 Turbo zu zwei fahrtauglichen Carcycles verwandelte. Die beiden Künstler fertigten über diesen Verwandlungsprozess den Making-of-Film Cars Into Bicycles an. Im Jahr 2011 präsentierte die Jack Hanley Gallery New York diese Carcycles bzw. Saab-Fahrräder in der Ausstellung „Postautomobilzeitalter“. Zu diesem Anlass entstand die Dokumentation einer Radtour mit den Carcycles auf dem Hudson River Bikeway. Auf diesem Radweg (unweit des gefilmten Abschnitts) verübte am 06.11.2017 ein IS-Terrorist mit einem Pickup-LKW ein verheerendes Massaker an acht RadfahrerInnen.

Der Urtext des auf unseren Leib geschneiderten Bezugs zum Automobil fängt sicherlich mit unseren ersten Fahrversuchen als Kleinkinder im vorsprachlichen Alter auf dem Bobby Car an. Mit dem Bobby Car beginnt für viele Menschen die lebenslange Gewöhnung ans Automobil als alleinigem Mobilitätsvehikel, funktionaler Maschine und Identifikationsobjekt. Das Biest/The Beast, ein auf SUV-Größe vergrößerter Nachbau des BIG Bobby Car Baby Porsche steht auf einem normalen „Parkplatz“ hinter dem Museum, zwischen Rathaus und der Kinder- und Jugendbibliothek „Türmchen“. Der „Parkplatz“ ist umfriedet mit einem schwarz gestrichenen Bauzaun.

Die Ausstellung autovisions - die mobilität der zukunft zeigt Skulpturen, die allesamt mit dem Möglichkeitssinn operieren. Sie begreifen das Auto und ihre Transformation nicht nur als bildhauerischen Akt, sondern auch als Umsetzung einer gesellschaftlichen Idee, die sich in unseren Städten abspielt. Autos definieren städtischen Raum, sie sind die bestimmenden Elemente des herrschenden urbanen Raumregimes. Insofern sind die gezeigten Werke Abbilder eines komplett auf den städtischen Raum ausgedehnten Skulptur Begriffs.

Stadt = Skulptur: Diese Gleichsetzung eröffnet neue Möglichkeiten. Man kann auch von der Schönheit des Versuchs des utopischen Moments sprechen, der in den Werken zum Ausdruck kommen soll und der genaugenommen die Stadt und unsere Lebensräume meint. Dieser Schönheit steht die Hegemonialmacht der Automobilideologie und ihrer radikalen Branchenvertreter entgegen. Ihr steht auch das entgegen, was durch die Automobilideologie überhaupt erst produziert wird: Die Zersiedelung unserer Städte durch Einfamilienhauswüsten, das radikale Auseinanderreißen von Räumen und menschlichen Beziehungen.

auto: Es gehört zur künstlerischen Freiheit, sich zumindest ansatzweise als außerhalb des Mainstreams der Gesellschaft zu positionieren. Also eine innere Haltung einzunehmen, die sich davon nicht beeindrucken lässt, vielleicht eine marginale Minderheitenposition zu markieren und kritische Hinterfragungen der Mehrheitsmeinung und Mehrheitsgesellschaft vorzunehmen und dies in Kunst umzusetzen. Dies ist die Anwendung des Präfixes auto – selbst. Die selbstbewusste Einnahme einer Position außerhalb der Mehrheits-Automobilgesellschaft gehört dazu. Diese hat sich in der früher sehr viel weiter ausgeprägten Fahrradstadt Marl in letzter Zeit deutlich durchgesetzt. Das mobile Selbstverständnis in der Stadt Marl hat sich komplett umgekehrt. Die Rückkehr von Martin Kaltwasser in seine Heimatstadt für einige Monate im Sommer 2017 hat bei ihm diese Gewissheit untermauert. Er sah sich tagtäglich durch Marl radelnd als Fremder, nunmehr aus einer anderen Welt gelandet, in dieser scheinbar alternativlosen, homogenen Marler Automobilgesellschaft. Er empfand sich als autos – selbst. Die Frage ist, als was sich all die in langen Pendlerkolonnen und zu Supermärkten, Baumärkten und sonstigen nahen Orten des täglichen Bedarfs fahrenden AutofahrerInnen empfinden, die an ihm vorbeirasten. Die Frage ist, wer eigentlich bestimmt, was individuelle Mobilität ist.

Gezeigte Arbeiten:

The Cart

Skulptur

Martin Kaltwasser & Folke Köbberling 

Puebla, Mexico 2013

Das Biest / The Beast

Plastik

Martin Kaltwasser

CityLeaks Urban Art Festival Köln / Cologne 2017

Cars Into Bicycles

Video 8:42 min

Martin Kaltwasser & Folke Köbberling 

Los Angeles, California/USA 2010

Cars Into Bicycles

Skulptur

Martin Kaltwasser & Folke Köbberling 

Bergamot Art Center, Santa Monica, California/USA 2010

Cars Into Bicycles

Modell

Martin Kaltwasser

2011

autovision 2/3

Skulptur

Martin Kaltwasser

Marl 2017

The Hudson River Bikeway Ride

Video 2:04

Martin Kaltwasser

New York City, 2011

Crushed Cayenne

Diashow auf Monitor

Martin Kaltwasser & Folke Köbberling

Berlin, München, Graz, Hamburg, 2008-2011